Zum Inhalt springen

Stimme aus der Praxis

Interview mit dem Schulleiter Jürgen Dietrich des OSZ Gastgewerbe, der Brillat-Savarin-Schule, über Schüler*innenorientierung, daraus resultierende Deutschkurse und JAzA

 

Das OSZ Gastgewerbe ist eines der größten Oberstufenzentren in Berlin und Sie steuern als Schulleiter alle Prozesse an Ihrer Schule. Was liegt Ihnen zurzeit am meisten am Herzen?

Wir haben ein Schulmotto, wie eigentlich jede Schule, aber bei uns ist das Wichtigste, dass wir dieses Schulmotto auch leben.

Wir möchten für die Schüler*innen kompetent, schüler*innenorientiert und weltoffen rüberkommen. Und schon wenn man die drei Worte für sich betrachtet, dann wissen Sie, was mir insbesondere am Herzen liegt. Diese Schüler*innenorientierung spielt für uns eine ganz große Rolle: -Wir versuchen, möglichst alle Schüler*innen entsprechend ihren Kompetenzen und Fähigkeiten zu fördern und sie auch zu fordern – und da liegt jetzt auch schon so die kleine Herausforderung. Wir haben zurzeit natürlich mit Schüler*innen vielfach zu tun, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind und die um die Fortsetzung ihrer Ausbildung kämpfen müssen. Das ist für uns eine Hauptherausforderung.

 

Damit haben Sie auch schon die zweite Frage beantwortet. Sprachliche Probleme stehen im Fokus.? Welche Probleme der Auszubildenden kommen bei Ihnen als Schulleiter noch an?

Wir haben zurzeit eine sehr große Anzahl von Schüler*innen aus Vietnam. Das sind mittlerweile schon über 500 Auszubildende und sie kommen teilweise mit einem Sprachstand hier an, der es noch nicht mal erlaubt, dass sie auf Deutsch „Guten Tag“ sagen können. Was das für die jungen Auszubildenden, aber auch für die Ausbildungsbetriebe bedeutet und natürlich auch für die Lehrkräfte, kann man sich ausmalen. Und der zweite Trend ist, dass die Schüler*innen schon seit geraumer Zeit nicht mehr mit den Kompetenzen zu uns kommen, wie das zum Beispiel vor zehn Jahren der Fall war. Ich will da keinen allgemeinbildenden Schulen zu nahetreten. Aber gerade in der deutschen Sprache gibt es selbst bei Muttersprachler*innen Defizite. Ebenfalls Mathe, Rechnen ist ein Problem. Auch das Fachrechnen z.B. Dreisatz ist teilweise schon schwierig. Genauso die erste Fremdsprache. Aber wir nehmen uns auch dieser Herausforderungen gerne an, weil ich der Meinung bin, dass für eine duale Ausbildung Abitur nicht notwendig ist.

Wir beobachten noch, – und da setzen wir mit unseren Beratungs- und Unterstützungsstrukturen an – dass die Elternhäuser aktuell eine untergeordnete Rolle spielen. Das heißt früher hatten wir zumindest den Eindruck, dass die Eltern stärker hinter der Ausbildung standen, als es heute der Fall ist. Das sind die Herausforderungen, mit denen wir gerade kämpfen.

 

Okay, da ist viel dabei! Dann schauen wir gerne nochmal auf die Deutschkurse. Da haben Sie einen interessanten Weg gefunden, zusätzliche Deutschkurse für Auszubildende anzubieten. Bitte erzählen Sie davon.

Von der vietnamesischen Community habe ich schon berichtet. Es betrifft aber nicht nur vietnamesische Auszubildende, sondern wir haben natürlich auch Auszubildende, die mit Traumaerfahrung zu uns kommen und auch Fluchthintergrund haben: Syrien zum Beispiel und auch viele andere Länder. Wir mussten uns überlegen, wie wir mit dieser Zielgruppe umgehen. In den Klassen haben wir oftmals internationale Auszubildende mit teilweise geringen Deutschkenntnissen. Wie soll da normaler Unterricht möglich sein? Wir waren relativ mutig. Was ich auch betonen muss: Das kann man als Schule nicht allein stemmen, sondern man muss alle, die an Ausbildung beteiligt sind, ins Boot holen. Sprich die Senatsschulverwaltung, die Industrie- und Handelskammer, auch die Fachgewerkschaft NGG [Nahrung-Genuss-Gaststätten], aber auch der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband mussten an den Tisch geholt werden. Wir haben überlegt, was können wir machen? Meine Forderung war, die Auszubildenden, die im Fachunterricht sitzen und sowieso kein Wort verstehen, entsprechend in Deutsch zu fördern. Wir haben die Auszubildenden dann aus den normalen Unterrichten herausgeholt. Sie werden aktuell nicht nach Stundentafel unterrichtet, sondern kriegen spezifisch in den Zeiträumen in der Schule berufsspezifische Sprachkurse an die Hand. In der anderen Zeit stehen sie den Ausbildungsbetrieben bereits zur Verfügung. Und nach einem halben Jahr haben wir gehofft, dass sie so weit sind und in die Regelklassen integriert werden können. Von der Rechtslage her war es nicht einfach, ein anderes Modell zu fahren.

Aber alle haben mit an einem Strang gezogen und gesagt, wir müssen da was in die Wege leiten. Dieses halbe Jahr Deutschkurs kann man den Ausbildungsbetrieben nicht vorschreiben, aber die IHK spricht die Empfehlung aus, dass die Betriebe mit den Auszubildenden die Ausbildung verlängern, damit kein halbes Jahr Unterrichtsstoff fehlt.

Diese Initiative läuft seit zwei Jahren und die Lehrkräfte melden zurück, dass die Auszubildenden natürlich schon wesentlich besser dem Unterricht folgen können als Auszubildende ohne diesen speziellen Deutschunterricht. Nicht alle, das ist klar, aber es ist zumindest eine ganz kleine Erfolgsgeschichte.

 

Und findet der Unterricht an der Schule statt?

Ja, der findet an der Schule statt. Das sind BAMF-geförderte berufsbezogene Sprachkurse. Wir haben dann einen Träger mit ins Boot geholt, das Bildungsunternehmen WIPA. Die Lehrkräfte der WIPA führen diese Sprachkurse durch. Das bedeutet natürlich einen hohen organisatorischen Aufwand, den die Schule da leistet. Die Sprachniveaus der Schüler*innen werden, wenn sie frisch zu uns kommen, durch die WIPA getestet. Die gesamte Organisation läuft über die Schule. Die Auszubildenden werden anschließend entsprechend ihrer sprachlichen Fähigkeiten in die berufsbezogenen Sprachkurse eingetaktet. Das Anfangsniveau liegt bei A1 bzw. keinen Deutschkenntnissen. Das ist schon teilweise ganz schwierig.

 

Und was ist das höchste Niveau, mit dem die Schüler*innen ans OSZ kommen?

Naja, wenn sie gut sprechen, dann kommen sie ja nicht in die Kurse rein. Das höchste Niveau kann ich also gar nicht verifizieren. Wir betrachten ja nur die Zielgruppe, die wirklich so große Sprachschwierigkeiten hat, dass man sie nicht in die Regelklassen schicken kann.

 

Wie nehmen die Auszubildenden das Angebot an?

Unterschiedlich, insbesondere die vietnamesischen Auszubildenden sagen: Was soll das? Wozu muss ich Deutsch lernen? Andere haben die Meinung: Mensch cool, dass wir sowas machen hier als Schule und sie nehmen das sehr, sehr dankbar an. Aber wie gesagt, es gibt auch die andere Meinung: Warum mischt sich Schule ein? Wir müssen hier kein Deutsch lernen. Und das ist ja schon der falsche Ansatz. Es geht ja nicht nur um Berufsausbildung. Ich glaube, wenn man gesellschaftlich integriert werden möchte, geht das nur über Sprache, das ist ganz klar.

 

Können Sie das Deutschangebot auch zukünftig noch weiter fortsetzen?

Ja, wir bieten die Kurse weiter an.

Wissen Sie, was toll wäre? Ich bin politisch auch engagiert und wir versuchen, mit verschiedensten Abgeordneten, bildungspolitischen Sprecher*innen ins Gespräch zu kommen. Günstig wäre natürlich, wenn die Schüler*innen mit einem Sprachstand hier ankommen, der es nicht notwendig macht, solche Maßnahmen zu ergreifen. Das wäre ideal. Aber ich glaube, diese Herausforderung wird noch über Jahre hinaus bestehen.

 

Aber toll, dass Sie eine Lösung gefunden haben. Und Sie haben ja auch kurz angedeutet, dass Sie gedacht haben, dass das benötigte Deutschniveau in einem halben Jahr zu erreichen wäre.

Da hängt ja auch der Aufenthaltsstatus für die jungen Menschen dran. Das heißt, irgendwann muss die Ausbildung fortgeführt werden, daher kann man die Kurse auch nicht unendlich fortsetzen. Aber was man machen kann, sind flankierende Maßnahmen. Auszubildende können dann nach dem Unterricht weitere Sprachkurse besuchen. Wir haben aber festgestellt, dass dies relativ wenig bringt, weil die Schüler*innen nach dem Unterricht nicht mehr aufnahmefähig sind, daher sind vorgezogene Intensivdeutschkurse die bessere Lösung.

Aus ausbildungs- und organisatorischen und auch rechtlichen Gründen ist ein halbes Jahr schon das Maximum, was man hier vorschalten kann. Übrigens sind andere Bundesländer ebenfalls auf dieses Projekt aufmerksam geworden. Wir haben uns mit den großen gastgewerblichen Schulen Deutschlands vernetzt. Diese Initiative findet viel Anklang, sodass auch andere in ihren Bundesländern mit den Ausbildungsbeteiligten an einer Umsetzung eines so umfangreichen Deutschangebots arbeiten.

Das Gastgewerbe ist natürlich prädestiniert für Auszubildende mit geringen Deutschkenntnissen. Aber auch andere Branchen wie Handel stehen vor den gleichen Herausforderungen. Sie kommen natürlich auf uns zu und fragen nach der Umsetzung. Da stehen wir auch im engen Austausch.

 

Diese Strategie ist Ihnen wirklich sehr gelungen.

Das Projekt JAzA ist jetzt seit 2022 an Ihrer Schule. Wie wird das Angebot bei Ihnen aufgenommen?

Wir stellen fest, dass das Angebot sehr gut aufgenommen wird. Nicht nur von den Auszubildenden, sondern auch von den Lehrkräften. Wir haben ein breites Beratungs- und Unterstützungsangebot. Es gibt sogenannte Beratungslehrkräfte bei uns. Wir haben Schulsozialarbeit und sie arbeiten sehr eng mit den Mitarbeiter*innen des JAzA-Projektes zusammen. Ich bin auch sehr zufrieden, dass wir eine der Pilotschulen waren, die partizipierten. Und ich bin auch zufrieden, dass es weitergeht. Ich bin der Meinung, je früher man ansetzt und je früher man an den Stellschrauben dreht, um einen bevorstehenden Ausbildungsabbruch zu verhindern, desto besser ist es.

 

Was schätzen Sie an dem Projekt?

Ich finde, dass es sehr schüler*innenorientiert ist, dass der JAzA-Ausbildungsbegleiter, Peter Holzer, wirklich auf die einzelnen Problemlagen eingeht. Er kümmert sich um jede*n Einzelne*n. Das schätze ich sehr. Und auch diese Flexibilität, dass man sich mal alle Bereiche anguckt. Liegt es am Ausbildungsbetrieb? Liegt es am privaten Umfeld? Liegt es an Problemen, die vielleicht schulisch bedingt sind? Das Screening ist effektiv. Es wird geguckt, was ist denn die eigentliche Ursache? Eine Schule macht nichts verkehrt, wenn die Schüler*innen im Mittelpunkt ihres Handelns stehen. Das macht dieses Projekt wirklich aus.

 

Okay, prima. Dankeschön. Welche Bedingungen braucht es, damit das Projekt in der Schule implementiert werden konnte?

Wenn man sich durch die Homepage des OSZ Gastgewerbes durchklickt, dann wird man sehen, wir haben - und darauf bin ich sehr stolz - ein sehr breit aufgestelltes Unterstützungs- und Beratungsangebot. Das geht über Schulsozialarbeit, über die Beratungslehrkräfte hinaus. Wir haben Angebote, die die Suchtprophylaxe betreffen. Wir haben Angebote, die die Diversität betreffen. Das ist ein Gesamtpaket, das geschnürt wurde. Die Implementierung ist immer dann erfolgreich, wenn ein Projekt wirklich in die bereits bestehenden Strukturen gut integriert und gut verzahnt ist. Und das ist JAzA. Diese Verzahnung mit den bereits bestehenden Beratungs- und Unterstützungsstrukturen des OSZ, die Teilnahme an den Teamsitzungen der Beratungsstrukturen und Absprachen untereinander. Das sind die Aspekte, die für mich erfolgsfördernd sind.

 

Was braucht es noch, damit Auszubildende ihre Ausbildung erfolgreich abschließen können?

Mit Sicherheit gut ausgebildete Lehrkräfte und die haben wir auch. Da will ich keine Schönmalerei betreiben, aber wir versuchen Lehrkräfte an Bord zu kriegen, die auch einen beruflichen Hintergrund haben, die die Ausbildung mal selber absolviert haben. Das ist in den meisten Fällen gegeben und das ist eine Grundvoraussetzung, denn eine Schule kann einen guten oder schlechten Ruf haben. Entscheidend ist die Lehrkraft in der Klasse – das ist eine Hauptvoraussetzung. Was natürlich auch wichtig ist, insbesondere in der dualen Ausbildung, ist die Absprache mit den Ausbildungspartner*innen und der frühzeitige Kontakt mit ihnen. Die dritte Voraussetzung für mich ist, neben den Lehrkräften und der Kooperation mit den dualen Partnern, die breite Palette an Beratung und Unterstützung. Dann kann man es hinkriegen.

 

Vielen Dank. Wollen Sie uns noch etwas sagen?

Ja, dass ich der Meinung bin, je mehr Beratung und Unterstützung man an Bord kriegt und sie schüler*innenorientiert implementiert wird, desto besser ist es. Deshalb bin ich auch sehr, sehr zufrieden, dass wir eine JAzA-Pilotschule waren und dass wir schnell mit an Bord geholt wurden. Und der Erfolg spricht für sich.

 

Super, vielen Dank, Herr Dietrich!